Begegnung I
Ich beobachte sie schon eine Weile aus den Augenwinkeln. Sie lenkt mich ab, lenkt ab von dem, was ich eigentlich hier will. Ruhig, nein in Ruhe gelassen, will ich hier sitzen. Ich will mich ganz meiner momentanen Melancholie hingeben. Eintauchen in das, was mich seit Tagen nicht mehr loslässt.
Der Platz ist mir vertraut. Diese Bank, umsäumt von großen, alten Ahornbäumen. Wie oft habe ich hier gesessen und den Kindern, meinen Kindern beim Spielen, Entenfüttern, Zanken zugesehen? Jetzt ist alles anders. Die Bäume sind geblieben, aber die Kinder kommen längst nicht mehr mit in den Park. Was hat nur diese Traurigkeit in mir ausgelöst?
Der Herbst ist in diesem Jahr doch so schön! Das Laub flirrt in all seinen bunten Tönen in den letzten warmen Sonnenstrahlen. Ahorn ist besonders schön.
Vielleicht ist diese Traurigkeit ja auch nur ein Zeichen der Zeit. Immer erinnert mich der Herbst daran, wie vergänglich alles ist. Bin ich nur noch Beobachterin in diesem Leben, das langsam, nein, viel zu schnell an mir vorüberzieht? Darüber will ich nachdenken.
Doch sie lässt mich nicht.
Ich kann unter halb geschlossenen Augenlidern, hinter meiner großen Sonnenbrille, die Augen nicht von ihr lassen. Jetzt kommt sie näher. Hoffentlich setzt sie sich nicht zu mir!
Was soll ich tun? Aufstehen? Weggehen? Vielleicht geht sie ja vorbei.
Nein, sie geht nicht, sie schlurft auf mich zu. Unförmig, den dicken Körper unter einem Mantel verborgen, der viel zu kurz und viel zu eng ist. Die schweren, geschwollenen Beine ragen wie zwei Stämme unter dem seitlich heruntergerissenen Saum hervor.
Die Strumpfhose, eine von der billigen Sorte, hat mehrere Laufmaschen am rechten Bein. Mühsam setzt sie Fuß vor Fuß. Füße, die in ausgetretenen Latschen, die vielleicht einmal weiß waren, stecken. Sie läuft teilweise schon auf dem Kork, die Sohlen sind außen schon weggetreten..
Jetzt ist sie fast bei mir angekommen.
Ich kann ihren kurzen Atem, ihr Geschnaufe schon hören.
Wie alt mag sie sein? Etwa so alt wie ich? Älter, jünger? Schwer zu sagen.
Ein muffiger Geruch weht zu mir herüber. So wie Kleider riechen, die durchgeschwitzt und ungelüftet sind. Ekel steigt in mir hoch. Meine empfindliche Nase hat mir schon immer zu schaffen gemacht.
„Haste mal ‘ne Zigarette für mich?” „Nein, leider nicht.” Wie gerne würde ich jetzt selbst eine rauchen. Aber ich habe es mir längst abgewöhnt.
Schwerfällig, ächzend lässt sie ihren schweren Körper neben mich fallen. Die beiden Plastiktüten stellt sie zwischen uns. Ich rutsche ein Stück zur Seite, mit angehaltenem Atem. Wie kann man nur so tief sinken, sich so gehen lassen?
Wie zufällig nehme ich meinen Korb, tue so, als suche ich etwas und stelle ihn neben die Bank auf den Boden. Bloß nicht mit ihren Sachen in Berührung kommen!
Ich versuche flach zu atmen, um den Ekel zu verdrängen. Warum gehe ich nicht? Langsam beginne ich den Kopf zu drehen, um sie im Schutze meiner Brille näher zu betrachten. Mit roten, fleischigen Fingern fängt sie an in einer der Tüten zu kramen. Es klirrt. Die Fingernägel bis auf den Grund abgekaut, die Nagelhaut überall verletzt, an einigen Stellen entzündet, zieht sie eine Flasche billigen Fusel heraus.
„Willste auch?”, ich stelle mich taub. Zittrige Finger drehen hastig den Schraubverschluss. Sie setzt die Flasche an den Mund und trinkt in gierigen Schlucken. Ich kann das Glucksen in ihren Kehle hören.
Der Geruch des Schnapses dringt mir in die Nase, als sie die Flasche absetzt. Ich wende den Kopf ab. Aber wie magisch angezogen drehe ich mich ihr gleich wieder zu, um sie noch näher in Augenschein zu nehmen. Oh ja, ich bin eine Voyeurin. Ich will meinem Entsetzen, meinem Ekel neue Nahrung geben. Die dunkelbraunen Haare, die von einzelnen weißen Fäden durchzogen sind, kleben ihr fettig am Kopf. Dünne Zottel hängen ungekämmt bis zum schmutzigen Kragen des dunkelblauen Popelinemantels. Weiße Schuppen überall auf dem speckig glänzenden Stoff.
Ich schaue nun unverhohlener, genauer hin. Die Scheu, aufdringlich zu sein, ist gewichen. Sie hat die Schnapsflasche zwischen ihre dicken Oberschenkel geklemmt. Der braune Rock, auch er viel zu eng und viel zu kurz, ist hochgerutscht. Durch die Strümpfe voller Fäden sehe ich das Geflecht dich hervortretender Krampfadern. Mit der linken Hand bedeckt sie Augen, wie um Ausschau zu halten nach etwas, das in weiter Ferne liegt. Speichelreste kleben ihr am Mund, die Lippen rau und aufgesprungen sind. Darüber die gerötete, großporige Nase. Die Augen - ich kann sie aus meiner Position nicht sehen.
„Der Herbst ist dieses Jahr wunderschön, find’ste nich auch? Trotzdem erinnert er mich daran, wie schnell alles vorbei sein kann. Aus - vorbei! Kennste das auch?”
Schweigen. Stille. In der Ferne lärmen irgendwo Kinder.
Wie kann diese Frau die gleichen Gedanken haben?
Die säuft doch nur.
Soll ich ihr antworten? Mit ihr reden?
Ich stehe auf, nehme meinen Korb, murmle so etwas wie „Wiedersehn” und gehe meinen Weg.
Wohin?
Begegnung II
Ich bin müde. Ich glaube in einem eigenen, richtigen Bett, würde ich tagelang schlafen, einen tiefen, traumlosen Schlaf, der alles mit sich fortnimmt. Ein Schlaf, der mich leicht und frei macht.
Ich bin doch frei - freier als die meisten Leute um mich herum. Frei und doch gefangen und vor allem müde, müde bis auf die Knochen.
Da hinten sitzt sie, auf meiner Bank. Unverschämt!
Wie sehr habe mich darauf gefreut, mich auf meinem Platz ein wenig in die Sonne zu setzen. Die letzten warmen Strahlen in diesem Herbst. Es kann jeden Tag das letzte Mal sein. Dann hält ihn nichts mehr auf, diesen immer näher rückenden Winter, mit peitschendem Regen, bei dem man nicht mehr weiß, wo man hin soll. Mit undurchdringlichem Nebel und Kälte, die einem bis auf die Knochen geht. Wo soll ich dann hin? Ja, in dieses Haus, die Schwestern meinen es ja gut. Aber es ist auch nur etwas besser als erfrieren.
Fremdbestimmt und immer nur für 5 Tage. Dann muss ich wieder raus.
Ich setze mich einfach zu ihr. Vielleicht haut sie ja gleich ab! So eine wie die wird bestimmt nicht neben mir sitzen bleiben.
Jeder Schritt fällt mir schwer. Wenn’s kalt wird, brauche ich unbedingt vernünftige Schuhe, diese Latschen machen’s nicht mehr lange. Aber in welche Schuhe passen meine ewig geschwollenen Füße?
Wie sie mich beobachtet! Tut so völlig gleichgültig. Dabei spüre ich ihren Blick auf mir. Auch wenn sie glaubt, sich hinter dieser großen schicken Sonnenbrille verstecken zu können.
Jetzt bin ich da. Ich haue sie erst mal um eine Zigarette an. Vielleicht hab’ ich ja Glück. Mist! „Leider nicht.”, sagt sie. Ah ja, setz ich mich erst mal hin. - So, das tut gut. Richtig schön ist es hier. Ach, und wie schnell sie den Korb jetzt wegnimmt und auf den Boden stellt, so als hätt’ ich was Ansteckendes. Soll sie nur! Die Sonne wärmt mich durch und durch. Diese letzten Sonnenstrahlen im Herbst sind viel intensiver als die heißen des Sommers. Einmal noch richtig durchwärmen. Auch von innen. Mein Angebot, auch einen Schluck zu nehmen, lehnt Madame natürlich ab. Dabei sieht sie aus, als könne sie auch einen vertragen.
Wie sie da sitzt! Die Beine übereinandergeschlagen, Schuhe und Strümpfe Ton in Ton. Taubenblau nennt sich das, glaube ich. Eine von der feinen Sorte. Jetzt betrachtet sie mich genauer. Wahrscheinlich glaubt sie, ich merke es nicht. Eine, die säuft, merkt ja nichts! Die ist weit weg. Was weiß die denn?
Die schleppt gleich ihre Einkäufe in ihr teures, schickes Zuhause und verurteilt unsereins, während sie sich im gleichen Atemzug ereifert und sich über die Armut in der Dritten Welt aufregt.
Vor fünf Jahren hätte ich auch nicht geglaubt, dass ich einmal so hier sitze. Teuer war mein Zuhause nicht, aber ich hatte eins. Wäre schön! Was soll’s? Es ist wie’s ist!
Ich muss unbedingt zur Kleiderbörse bei der Caritas. Vielleicht sind ja jetzt Schuhe da, die weit genug sind.
Wenn ich Glück habe, finde ich auch einen Mantel, der schön warm hält und passt. Bin ja in letzter Zeit etwas in die Breite gegangen, obwohl ich an manchen Tagen gar nicht so viel esse. Aber trinke! Dann sind wenigstens die Gedanken für einige Zeit weiter weg.
Wirklich schön! Der Herbst war noch nie so schön wie in diesem Jahr, kommt’s mir vor. Aber er geht so schnell vorbei, so wie alles in meinem Leben, ausgenommen, die schlechteren Zeiten.
Ich sag’s ihr. Sie muss so alt sein wie ich. Vielleicht können wir ein bisschen reden. Ist schon ‘ne Weile her, dass ich mit jemand Normalem gesprochen habe.
Ach ja, war nichts. Sie will nicht. Sie geht.
Und ich?